Die Zeit ist knapp. Noch eine halbe Stunde, bevor wir los fahren zum Vortrag über die Persönlichkeit deines Hundes. Die Sonne strahlt vom Himmel, alle Welt hält sich draußen auf. Vor der Tür fahren Mütter ihre Töchter zum Ballett, schnell werden die letzten Einkäufe für den Grillabend erledigt. Kurz überlege ich, ob wir uns eine Gassirunde durch den Stress überhaupt antun sollen. Aber warten bis ich wieder zurück bin? Das ist zu lang und ungerecht für die beiden Rabauken. Also schnappen wir uns Geschirre und Leine und brüsten uns für Chaos und Lautstärke da draußen.

Kurz vor dem Garten des Neubaus spüre ich die Aufregung bei den Beiden. Ich bin gerade dabei, sie neu zu sortieren, da kommt was kommen muss: Padauz, Padauz, Wauz, Wauz, kommt der Wächter des Gartens an den Zaun geschossen. Obwohl ich eigentlich darauf vorbereitet war, zucke ich zusammen und erschrecke. Bleibe stehen. Versuche noch verzweifelt, Amber die Kontrolle über die mir außer Kontrolle geratene Situation zu entreißen. Zu spät, sie hat natürlich längst gemerkt, dass ich ausgerechnet heute nicht in der Lage bin, hier ruhig und besonnen zu agieren. In Erwartung des Chaos los spaziert, konnte gar nichts anderes passieren. Während ich absurde Dinge versuche – stehen bleiben, ihr den Blick versperren, sie beruhigen – tanzt der Hund im Hintergrund fröhlich am Gartenzaun und seiner Besitzerin auf der Nase herum. Eigentlich zum Lachen. Das ist mir aber bei all meiner Erwartung uns gegenüber schon längst verloren gegangen. Als der Hund endlich eingefangen und weg vom Zaun gebracht ist, gehen wir am Garten vorbei. Buddy hebt sein Bein, ich untersage es ihm. Eigentlich hat er Recht, Bein hoch und vergessen. Ich aber kann das nicht. Besessen vom Ehrgeiz und vom Wunsch, nur einmal ruhiges Vorbild in einer blöden Situation sein zu können, hacke ich mich gedanklich in Stücke. Drehe sogar noch um, um nochmals am Zaun vorbei zu gehen. Dabei sehe ich sie – die Nachbarin, die sich vom Balkon herunter beugt und mit der Besitzerin spricht. In meinen Gedanken lästern sie. Über mich, meinen zeternden Hund und meine Unfähigkeit, alles unter Kontrolle haben. Na toll, jetzt laufen mir auch noch die Tränen. Lust auf Hund, geschweige denn einen Vortrag über dessen Bedürfnisse habe ich heute ganz bestimmt nicht mehr.

Die Hundebegegnung vorm Haus verläuft ruhig und ohne Zwischenfall. Im Haus angekommen, befreie ich beide vom Geschirr. Das erste Mal bin ich nicht wütend auf meine kleine Polizistin, stelle ich noch fest. Ein riesiger Fortschritt. Die entspannte Hundebegegnung habe ich dennoch hinten runter fallen lassen. Freuen über Erfolge wird völlig überbewertet, häng dich lieber an Dingen auf, die nicht so gut gelaufen sind. Das Hundemädchen sitzt mit großen Augen vor mir. Obwohl ich ihr längst die Freigabe erteilt habe, weicht sie nicht von meiner Seite. Ich schaue sie an. Das erste Mal. Warum habe ich das vorhin nicht getan? Voll von Erwartungen und Wunschvorstellungen habe ich kein eines Mal wirklich auf sie geachtet, während sie nur uns im Sinn hat. Wir kuscheln einen Moment. Im Geiste entschuldige ich mich bei ihr: Tut mir leid, mein schönes Mädchen, du kannst ja nichts dafür.

Kurz darauf sitze ich im Vortrag. Mirko Tomasini erarbeitet mit uns die Unterschiede zwischen Persönlichkeit und Verhalten. Verhalten ist das, was ich nach außen sehe. Es kann antrainiert sein, dressiert oder vom Hund perfektioniert, um mich auf ein Bedürfnis hinzuweisen. Ob ich das erkenne, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die tatsächliche Persönlichkeit des Hundes steckt tiefer. Setzt sich – vereinfacht gesagt – zusammen aus Genetik, Erfahrung und Umfeld. Wobei das Umfeld des Hundes aus Mirkos Sicht den größten Einfluss hat. “Schaff deinem Hund ein sicheres Umfeld, in dem ihr lebt.” Schon öfter habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Im Haus ist alles gut. Es ist unser sicherer Ort. Dort sind wir alle entspannt. Die Situation vor dem Haus dagegen ist – nennen wir es suboptimal. Zu voll, zu laut, zu stressig. Für mich. Das Gegenteil von Sicherheit. Ich kann es nicht verbergen, es nervt mich. Und stresst im Umkehrschluss das Rudel. Gemeinsam laufen wir auf Glatteis.

Früher habe ich mich daran aufgerieben. Wieder und wieder an mir herumgeändert, um die Situation gut zu finden. Tu ich aber nicht. Egal, wie sehr ich ändere. Es gibt aber ja noch eine andere Option: Geht doch woanders spazieren. Das entspannt. Und gibt Sicherheit. Vielleicht auch mal als Polster für später, für unsichere, nicht souveräne Situationen.

Beispiele werden angebracht. Wir schauen uns Videos an. Versuchen gemeinsam aus dem, was wir sehen, eine Persönlichkeit abzuleiten. Stellen schnell fest, dass wir an unsere Grenzen kommen. Uns sehr beeinflussen lassen von Werten, eigenen Wahrheiten und Wunschvorstellungen. Weist uns Mirko auf das Umfeld hin, sehen wir ganz andere Dinge. Ich muss an meinen Valentinsartikel denken. Wie der Blick eines anderen deine Sichtweise beeinflusst. Warum ist es für uns Menschen so schwer, einfach mal nur hinzuschauen? Ohne direkt zu bewerten, zu wissen, zu lösen? Der Wunsch nach absoluter Kontrolle? Der eigene Wunsch nach Sicherheit? Kategorisiere ich in meinen Schubladen, muss ich mich nicht mit etwas Fremdem auseinander setzen. Hake ich ab in “Altbekannt”, muss ich nichts Neues lernen, keine Herausforderungen meistern, nicht wachsen. Ich hole mir keine blauen Flecke, Schürfwunden, Beulen, verlasse nie den alten Weg. Fühle mich sicher, erlebe aber auch niemals den kostbaren Glücksmoment einer Neuentdeckung, die Euphorie, etwas nach langer Anstrengung erreicht zu haben.

“Wollen die Leute die Persönlichkeit ihres Hundes denn sehen?” wirft eine Teilnehmerin in den Raum. Eine berechtige Frage! Heißt das doch, dass ich die Bedürfnisse meines Hundes wahrnehme, sie erkenne, sie verstehe. Und sie erfülle, auch wenn sie abweichen von meinen eigenen. Schon wieder Arbeit. Puh, Hund, warum machst du es mir so schwer? Manchmal denke ich, ich kann nicht mehr. Ich mag nicht mehr regulieren, nicht mehr eingreifen, ich mag einfach spazieren und es soll funktionieren. Wie einfach wäre es, die Augen zu verschließen, wieder zurück zu fallen in die alten Muster. Es war doch eigentlich ganz ok. Wie egoistisch aber auch und wie unfair für das Tier, welches sich nicht aus meinem Umfeld entziehen kann. Schau es dir an. Schau genau hin. Wie sie da sitzt mit ihren braunen Rehaugen, die dich unablässig lesen. Dich lieben wie du bist. Für deine Persönlichkeit. Trotz deiner Fehler. Die dir verziehen, wenn du sie wieder in eine stressige Situation gebracht hast – du wusstest es ja nicht besser. Morgen versuchen wir es nochmal. Morgen versuchen wir etwas Neues. Nimm es doch nicht so ernst. Lass doch mal los, lach doch mal los, tobe und spiele doch mal mit uns. Lass uns die Welt ringsherum vergessen! Ist das für dich noch Arbeit? Wirkt das für dich noch schwer?

Und was, wenn die Persönlichkeit des Tieres ganz anders ist als das, was ich mir gewünscht habe? Wenn ich mich verabschieden muss von meiner Vorstellung im Geiste? Schau nochmals hin. Ganz genau. Überlege dir, ob dein Hund dir nicht vielleicht etwas spiegelt, dass du selbst nicht sehen willst. Ist es wirklich so, dass du dir wünschst, morgens in einer großen Gruppe zu laufen, zu quatschen, ohne die Hunde zu beachten? Oder wünschst du dir in Wahrheit Ruhe und Konzentration auf diesen besonderen Moment mit den beiden Rabauken? Die Antwort kennst du doch selbst! Bewunderst du das hübsche Mädchen nicht insgesamt dafür, dass sie lautstark kundtut, wenn ihr andere zu nah kommen? Dass sie sofort sortiert, wenn es ihr zu viel wird? Schau sie dir an. Schau hin. Ganz genau. Du kannst noch so viel lernen.

Lasst es euch gut gehen.

Sie

4 Replies to “Schau hin oder die Persönlichkeit deines Hundes”

  1. Über die Persönlichkeit meiner Hunde habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Was von dem, was sie tun, kommt wirklich aus ihnen selbst, und was davon verursache ich? Mir fällt es auch nicht immer leicht, die Rabauken so zu akzeptieren, wie sie sind. Obwohl sie das ja umgekehrt bei mir auch tun. Und du hast Recht: Man kann dabei ja so viel von ihnen lernen. 🙂
    Liebe Grüße!

    1. Mir ja auch nicht. Umso faszinierender ist es dann, wenn es immer besser gelingt und sich ganz tolle Facetten zeigen. Über diese Einsicht und Erkenntnis bin ich richtig glücklich. 🙂
      Liebe Grüße von uns an euch!

  2. Interessanter Beitrag und mit einem Thema, dass mir sehr vertraut ist. Ich muss zugeben, schon mein erster Hund hat nicht viel mit meiner Wunschvortellung zu tun gehabt – aber von ihm habe ich viel gerlent. In den vielen Jahren mit Hunden in meinem Leben war das wichtigste zu erkenne, das jeder Hund eine ganz eigene Persönlichkeit ist und auch eigene Wünsche und Bedürfnisse hat. Mein Job ist es, das zu erkennen und damit umzugehen – so wie es der Job meiner Hunde ist auch auf mich einzugehen. Aber keiner von uns würde vom anderen erwarten, dass er sich völlig ändert oder aufgibt.
    Jeder unserer Hunde hat mir viel beigebracht und auch die beiden jetzt tun das noch!

    Liebe Grüße,
    Isabella mit Cara und Shadow

    1. Das ist für mich auch eine der tollsten Erkenntnisse – wirklich die Persönlichkeit des jeweiligen Hundes zu erkennen und zu entdecken. Eine ganz tolle Lernerfahrung und für mich etwas ganz wertvolles.
      Liebe Grüße,
      Kerstin mit Buddy und Amber

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